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Landarbeit unter Covid-19: Zwar «systemrelevant», aber weiterhin prekär

Von Johanna Herrigel, Sarah Schilliger, Ariane Zangger, Silva Lieberherr (17.4.2020)

Der Hilferuf von Seiten der Bäuer*innen war gross, als Mitte März klar wurde, dass im Zuge der Covid-19-Krise und den damit einhergehenden Notfallmassnahmen der Regierungen die Grenzen zwischen europäischen Ländern zunehmend dichtgemacht werden. Plötzlich stellte sich die Frage, wer nun das Gemüse ernten und all die harte Arbeit übernehmen soll, welche normalerweise ausländische Landarbeiter*innen zu Tiefstlöhnen und unter prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen erledigen. Die Schätzungen zu den nun fehlenden Landarbeiter*innen waren enorm hoch: In Italien sollen es rund 370'000 sein, in Frankreich 200'000, in Spanien 100'000 bis 150'000 (1).

Die aktuell zu beobachtenden Debatten und Entwicklungen zeigen jedoch, dass wir uns in dieser Krise als Gesellschaft nur begrenzt den wirklich grundlegenden Fragen stellen und Lehren für die Zukunft ziehen. Vielmehr werden Hauruckübungen praktiziert und Schnell-Pflaster-Lösungen entwickelt, statt dass nachhaltige Massnahmen gegen die Prekarität von in der Landwirtschaft tätigen Personen entwickelt würden. Einmal mehr wird deutlich, wie stark die Art und Weise, wie wir heute Lebensmittel herstellen, auf einer «imperialen Lebensweise» (2) fusst, die nicht nur die Natur, sondern auch Menschen ausbeutet. Im Folgenden zeigen wir dies exemplarisch am Beispiel der Schweiz.

Globalisierter Arbeitsmarkt gerät ins Stocken

Plötzlich waren sie also im Fokus, sie die sonst meist im Verborgenen bleiben, obwohl sie zu einem grossen Teil dafür verantwortlich sind, dass regionales Gemüse auf unserem Teller landet: Die rund 30'000 ausländischen ‘familienfremden’ Arbeitskräfte, die jedes Jahr Tausende von Kilometern zurücklegen, um aus Ländern wie Rumänien, Polen, Ungarn oder Portugal anzureisen und während ein paar Monaten auf Schweizer Feldern zu arbeiten. Häufig kehren sie immer wieder auf die gleichen Höfe zurück und versorgen die hiesigen Bäuer*innen mit Hilfe ihrer informellen Netzwerke und Kontakte zu eigenen Familienmitgliedern oder Bekannten aus dem Dorf verlässlich mit ‘frischen’ Arbeitskräften.

Wie ‘unverzichtbar’ die ausländischen Landarbeiter*innen für die Schweizer Landwirtschaft sind, wurde breits in vielen Medienberichten deutlich. Dabei standen aber stets die Anliegen der Schweizer Bauern und die Sorge um die frischen Schweizer Spargeln und Erdbeeren in den Supermarkt-Regalen im Vordergrund, während die prekäre Situation der Landarbeiter*innen kaum ernsthaft problematisiert wurde. Ein Bauer aus dem Thurgau liess verlauten: «Momentan hilft es uns sicher, dass die Erntehelfer, die bei uns sind, die eigentlich vorgesehenen Ferien nicht beziehen können, da sie bei einer Einreise nach Polen für 14 Tage in die Quarantäne müssten» (3). Ein anderer Bauer berichtet, dass er wegen den angekündigten Grenzschliessungen «seine» Landarbeiter*innen in Rumänien anrief und bat, sich «unverzüglich» auf den Weg zu machen, woraufhin diese innert 22 Stunden auf dem Hof eintrafen (4).  Von den gesundheitlichen Risiken, die sie dabei sowohl auf der Reise (häufig in engen Bussen) als auch in der Schweiz auf sich nehmen, aber auch von den Sorgen um ihre Familienangehörigen, die sie während des «Lockdowns» in den Herkunftsländern zurücklassen müssen, ist nichts zu vernehmen. Hauptsache, die ‘just-in-time’ Versorgung mit billigen Arbeitskräften ist sichergestellt.

Jetzt, wo dieser globalisierte Arbeitsmarkt in mehreren Ländern gleichzeitig ins Stocken geraten ist, ist auch fraglich, ob der Nachschub mit frischen Tomaten, Auberginen und Erdbeeren in den nächsten Monaten einfach durch Importe aus dem Ausland ‘gelöst’ und die Produktion – wie sonst üblich – ‘ausgelagert’ werden kann. Denn normalerweise dienen innerhalb von Europa Länder wie Italien und Spanien als billige ‘Produktionsstätten’ – auch hier auf dem Buckel ausländischer Landarbeiter*innen. Ein Land wie die Schweiz, das einen Selbstversorgungsgrad von rund 60 Prozent hat (5), profitiert von der Auslagerung eines bedeutenden Teils der Lebensmittelversorgung an solche exportorientierten Produktionsstätten. Doch in der aktuellen Gesundheitskrise fehlen die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft überall, auch in diesen Exportländern. So wird bereits prognostiziert, dass in Italien das Gemüse und die Früchte «zu verfaulen» drohen (6).

 

Von wegen Systemrelevanz!

Die Coronakrise macht deutlich, welche Arbeiten für unsere Gesellschaft essentiell sind. So wird auch die stabile Versorgung mit Lebensmitteln als «systemrelevant» kategorisiert, wofür die Landwirtschaft genauso zentral ist wie die Verarbeitung, die Logistik und der Einzelhandel. Dies ist insofern beachtenswert, weil Tätigkeiten in Land- und Ernährungswirtschaft in Prä-Corona-Zeiten gesellschaftlich keine besonders starke Wertschätzung erfahren haben. Es wird offensichtlich, welches Missverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Wichtigkeit dieser Arbeit und der leider weit verbreiteten Praxis der Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte in der Branche besteht – ähnlich wie bei der Pflegearbeit.

«Was am Feld fehlen sind nicht Erntearbeiter*innen, sondern gute Arbeitsbedingungen und eine gute Bezahlung, die dieser harten Arbeit entspricht», sagt die Aktivistin Sonia Mélo von Sezonieri, einer Kampagne für die Rechte von Landarbeitern in Österreich. Dasselbe lässt sich auch für die Schweiz sagen: Die Löhne der Landarbeiter*innen sind tief, die Arbeitszeiten enorm lang. Im Kanton Bern etwa beträgt der aktuelle Richtlohn für saisonale Arbeitskräfte 3'330 CHF brutto bei einer Wochenarbeitszeit von 55 Stunden. Die arbeitsrechtliche Situation ist prekär – auch, weil die Landwirtschaft nicht dem Arbeitsgesetz unterstellt ist. Neben dem ungenügenden rechtlichen Schutz kommt hinzu, dass Landarbeiter*Innen häufig aufgrund mangelnder sprachlicher Fähigkeiten ihre Arbeitsverträge und ihre ihnen eigentlich zustehenden Rechte zu wenig kennen und es ihnen an Möglichkeiten fehlt, diese auch aktiv einzufordern.

Die Prekarität erstreckt sich auch auf gesundheitliche Aspekte: Vielen Landarbeiter*innen ist nicht bewusst, dass sie im Falle von Krankheit und Unfall durch die Kranken- und Unfallversicherung geschützt und finanziell abgesichert wären und dass sie ein Recht auf ärztliche Konsultation haben, ohne einen Lohnausfall zu riskieren. Insbesondere in Zeiten von Corona erscheint dieser Informationsmangel umso eklatanter und zeigt, dass der Bund und die Kantone dringend Massnahmen ergreifen müssen, um für die Landarbeiter*innen den Zugang zu medizinischer Versorgung sicherzustellen. Zudem wären verstärkte Kontrollen nötig, um angemessene gesundheitliche Schutzmassnahmen auf den Höfen zu garantieren – sowohl bei der Arbeit als auch in der Unterbringung.

 

«Geht auf die Felder den Bauern helfen!»

Und nun? Man sucht händeringend nach Ersatz – wobei sich der Fokus in der Arbeitskräfte-Rekrutierung jetzt verstärkt auf das sogenannte ‘Inländerpotenzial’ verschiebt. Dies ist eine Tendenz, die bereits im Nachzug zur sogenannten SVP-Masseneinwanderungsinitiative im Jahr 2014 beobachtet werden konnte, als vermehrt der Einsatz von Geflüchteten auf Schweizer Höfen gefordert wurde. Damals ist mit der ‘Flüchtlingslehre’ vom Staatssekretariat für Migration und dem Schweizerischen Bauernverband ein Pilotprojekt gestartet worden, um vermehrt Geflüchtete und vorläufig Aufgenommene für die landwirtschaftliche Arbeit zu gewinnen (mit eher mässigem Erfolg).

 

Nun wird das ‘Inländerpotenzial’ sehr viel breiter adressiert. So hat sogar Bundesrat Guy Parmelin in einem Interview angesichts der erschwerten Einreise von Saisonniers verlauten lassen: «Ich rufe hier alle auf, die Arbeit suchen: Geht auf die Felder den Bauern helfen!» (7) Es gilt, 'brachliegende' Arbeitskräfte-Ressourcen zu aktivieren: Der Ruf nach dem Einsatz der in der Schweiz wohnhaften Personen, welche 'freie Kapazitäten' für einen Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft haben, ist gross und wird medial weitgehend positiv diskutiert. Die Personengruppen, bei denen solch ein Arbeitspotential ausgemacht wird, werden häufig auch als jene dargestellt, die dem Staat und vor allem den öffentlichen Finanzen 'auf der Tasche liegen' würden: Personen, die Erwebslosengeld beziehen oder von der Sozialhilfe unterstützt werden, geflüchtete Personen, Studierende. Unter dem Appell der nationalen 'Solidarität' und der 'Ernährungssicherheit' sollen nun diese Menschen ‘aktiviert’ werden, sprich den Knochenjob von Landarbeiter*innen übernehmen.

 

Auf zur Knochenarbeit

Schnell fand sich nun eine umtriebige Koalition von Unternehmer*innen, Landwirtschafts- und Gastronomieverbänden zusammen, um einem marktwirtschaftlichen Modell in der Landwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen, das bereits in vielen anderen Branchen verbreitet ist. So verspricht die Personalverleih-Agentur «Coople», den Landwirt*innen temporäre Arbeitskräfte zu verleihen, die zum Beispiel aktuell in der Gastronomie nicht mehr zum Einsatz kommen können. Die Firma hat sich laut eigenen Angaben zu «Europas grösster Plattform für flexible Personallösungen entwickelt» und verleiht rund 300'000 Personen als flexibles Personal an rund 15'000 Unternehmen in der «Gastronomie, Hotellerie, Einzelhandel, Aviatik, Logistik, Events und Promotion sowie aus dem Kaufmännischen Sektor». «Von der Restaurantküche raus aufs Lauchfeld» (9) – so lautet das Motto. Abgesehen von der Frage, inwiefern sich hier das prekäre Arbeitsmodel der temporären Leiharbeit nun auch in der Landwirtschaft etabliert, bezweifeln auch einige Landwirte, ob die so rekrutierten Arbeitskräfte aus anderen Branchen sich bewähren werden. Denn: «Bei den neuen Schweizer Erntehelfern müsse man bedenken, dass sie vielleicht die strenge körperliche Arbeit nicht gewohnt seien und es häufigere Schichtwechsel brauche», heisst es von Seiten des Schweizerischen Bauernverbandes (10).

Auf in eine Zukunft mit Zukunft!

Unter ganz anderen Bedingungen gelangen jene insbesondere jungen Menschen zu Bauernhöfen, die sich beim Solidaritätsnetzwerk der Plattform «Landwirtschaft mit Zukunft» gemeldet haben (11). Dass sich so viele Freiwillige für die Arbeit in der Landwirtschaft interessieren, ist sicher ein hoffnungsvolles Zeichen. Darin besteht ein Potenzial für neue Strukturen und für ein stärkeres Zusammenkommen von Produzent*innen und Konsument*innen, wie es bereits in zahlreichen Solawi-Projekten praktiziert wird. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob sich die fehlenden Landarbeiter*innen aus dem Ausland so einfach ersetzen lassen. Für die Erntearbeit braucht es professionelles Know-how, Erfahrung und vor allem körperliches Durchhaltevermögen. Freiwillige, die sich in Zeiten von Corona für Erntearbeiten melden, werden dies wohl auch selber erfahren.

Die eigentlich naheliegende Lösung – den Lohn anzuheben und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, wenn diese zu unattraktiv sind – wird bisher in der breiteren Öffentlichkeit kaum aufgebracht. Die Covid-19-Krise riskiert, existierende Ungleichheiten und die Ausbeutung von Mensch und Natur zu verschärfen. Die Krise hat aber gleichzeitig auch das Potenzial, die Relevanz der Arbeit in der Landwirtschaft und den Wert unserer Nahrungsmittel stärker deutlich zu machen. Nun ist der Moment gekommen, um nicht nur über eine andere Landwirtschaft zu reden, sondern diese auch aktiv zu stärken. Wir brauchen demokratischere, gerechtere und ökologischere Ernährungssysteme, die sich der Ernährungssouveränität und der Agrarökologie verpflichten. Eine wachsende Wertschätzung der Landwirtschaft ändert die Verhältnisse noch nicht. Aber es könnte ein Anfang sein, um die Agrarpolitik grundlegend umzukrempeln und Arbeit in der Landwirtschaft zu einer Tätigkeit zu machen, die Menschen unter würdigen Bedingungen ausführen können.

Dieser Artikel erscheint im Archipel 5/2020, https://forumcivique.org/publikationen/archipel/.

*Die Autorinnen haben die Konferenz «Widerstand am Tellerrand» im Februar 2020 in Bern mitorganisiert und engagieren sich über die Konferenz hinaus für eine sozial-ökologische Wende in der Landwirtschaft - insbesondere für verbesserte Arbeitsbedingungen für migrantische Landarbeiter*innen.

In den nächsten Wochen analysieren wir genauer, ob sich in der Schweizer Landwirtschaft im Zuge der Covid-19-Krise neue Rekrutierungsmuster und Anstellungsformate (z.B. über die Personalverleih-Firma «Coople») etablieren, beleuchten die Erfahrungen von und mit solidarischen «Freiwilligen» auf den Schweizer Feldern und fragen nach den Konturen einer sozial nachhaltigen Landwirtschaft über die Post-Corona-Zeit hinaus.

 

Quellen

  1. Lebensmittel Zeitung, 9.4.2020

  2. Ulrich Brand/Markus Wissen (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: Oekom Verlag.

  3. ThurgauerZeitung, 31.3.2020, «Schweizer als Notfall-Erntehelfer».

  4. NZZ, 4.4.2020, «Landwirtschaft am Limit: Wie zwei Zürcher Bauernfamilien mit der Corona-Krise ringen».

  5. Agrarbericht 2019

  6. Tagesanzeiger, 14.4.2020, «Gestrandet im Mittelmeer».

  7. Schweizer Illustrierte, 2.4.2020, «Guy Parmelin über Corona und die Wirtschaft».

  8. https://go.coople.com/obst-und-gemuese

  9. Aargauer Zeitung, 8.4.2020, «Von der Restaurantküche raus aufs Lauchfeld».

  10. Tagesanzeiger, 1.4.2020, «Alle wollen den Bauern helfen».

  11. https://www.landwirtschaftmitzukunft.ch/landwirtschaftssolinetz

 

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